Freitag, 10. März 2017
Böses Mädchen
Der uralte Beamte zuckte resigniert mit den Schultern, als er mich hereinkommen sah. "Ich habe dich in den letzten Tagen nicht ein- und ausgehen sehen. Wo warst du denn die ganze Zeit? Bist du ausgeflogen?" Der uralte Beamte war Hausmeister in dem staatlich geführten (ich wollte fast schreiben, "staatlich besessenen") Studentenheim, in dem ich wohne. Ich war gerade stinkend und voller Alkoholflecken auf Kleidung und Haut vom Ausgehen in der Stadt zurückgekommen. Ich fühlte mich scheiße, aber gut. Scheiße, weil ich so müde war und so viel getrunken hatte, dass ich emotional und körperlich zutiefst erschöpft und aufgebraucht war. Gut fühlte ich mich, weil ich müde war und jetzt dann endlich schlafen durfte. Es ist schön, schlafen zu dürfen, wenn man müde ist. Hätte ja auch sein können, dass ich zur Arbeit hätte gehen müssen, theoretisch. Aber eine Arbeit tat ich mir nicht an, schließlich bekam ich Studienbeihilfe. Es ist schön, schlafen zu können, wenn man ins Bett geht. Und es ist schön, durch das frühmorgendliche Wien zu gehen, wenn andere Leute gerade auf dem Weg zu Arbeit und ganz tief in der Realität versunken und mit ihr eng verstrickt sind, während man selber keine Verpflichtungen hat und durch Müdigkeit und Alkohol das Leben oder das, was man dafür hält, so weit entfernt wahrnimmt, dass es einem ganz entspannt und sympathisch vorkommt. Das, und der Kontrast dessen zu der Geschäftigkeit und den schweren Verpflichtungen der anderen Menschen machte diese Spaziergänge und das Heimkommen vom Ausgehen so schön. Ein bisschen taten mir die Leute leid, die arbeiten mussten, aber nicht so sehr, dass ich es ihnen gleich getan hätte.

Für mich war es das Schönste, keine Verpflichtungen zu haben. So empfand ich das zumindest an diesem Samstagmorgen. An vielen andern Tagen war ich einsam, weil niemand mich brauchte und vermisste. So weit hatte ich mich schon aller Verpflichtungen entledigt, dass ich gar nicht mehr wusste, wie normale Beziehungen gehen, in denen man die andere Person und die Treffen mit ihr nicht zum Großteil, zu 50 % und eins als Belastung empfindet. Das war wohl der Grund dafür, dass ich es mit Beziehungen nicht so hatte. Ich hatte noch nie, so gut wie nie, normale Beziehungen gehabt, nämlich mit Menschen die ich mochte, mit denen ich zusammen war, weil ich es wollte, und sie wollten auch, das war ja das Schöne, und nicht weil ich musste, weil ich bestraft würde auf emotionale oder ganz greifbare Weise, wenn ich davon liefe.

Den uralten Hausmeisterbeamten nahm ich nicht wirklich ernst. Ich beneidete ihn ein bisschen um seinen Job, der ihn in einem Studentenheim mit Leuten wie mir soviel Zeit verbringen ließ. Ich dachte mir, selbst für später kann ich mir so einen Job nicht vorstellen, denn ich will frei sein, aber andere Leute, normale, arbeitsame Leute fänden sowas sicher nicht so schlecht. Immerhin war es ein sicherer Job, und das war es doch, was wir alle wollen: Sicherheit. Bloß, dass ich noch Freiheit extra dazu haben wollte.

Na gut, endlich zuhause. Zuhause, das war nicht nur mein kleines Studentenzimmer, sondern vor allem mein Bett. In meinem Bett fühlte ich mich von allen Orten auf der Welt am wohlsten. Es musste nicht genau dieses Bett sein. Auch wenn ich umzöge und große Schwierigkeiten hätte, mich in meiner neuen Umgebung einzugewöhnen, würde ich mich doch gleich wohl und geborgen und auf eine altbekannte Art zuhause fühlen, sobald ich in meinem neuen Bett landete. Ich ließ die Jalousien herunter, um meine müden Augen vor der aufgehenden Sonne zu schützen. Dieser Akt bereitete mir immer besonderes Vergnügen, weil er so schweinisch war, so arbeitsscheu, so unerhört und unmoralisch: Einfach die schöne Sonne auszusperren, wo meine Eltern mir doch immer gesagt hatten, ich solle rausgehen, wenn das Wetter schön ist, ich solle am Morgen den Tag geschäftig beginnen und am Abend zeitig ins Bett gehen. Lies nicht zu lange, schalt die Nachttischlampe aus. Ich genoss es so sehr, dass ich diebisch kicherte, als ich all diese Regeln der Vernunft brach und den helllichten Tag und den Ausblick auf die arbeitende, beschwerten Menschen aussperrte, mich um sieben Uhr morgens betrunken, stinkend und immer noch ungewaschen ins Bett legte, mich in die weiche, geliebte Decke wickelte und fast sofort einschlief.

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